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Holger Oertel

Mein kurzes Leben als Matrosenlehrling

 

Zugegeben: Die präzisen inneren Bilder sind fast bis zur Unkenntlichkeit verblasst. Und die Fotos? Zwei sind es, und ich hüte sie seit zwanzig Jahren wie einen Schatz. Dabei ist auf ihnen wahrlich keine Schönheit zu sehen, sondern die schon damals nicht mehr ganz jugendliche MANSFELD. Eine großformatige Luftaufnahme des Schiffes und ein Bild, das von der vereisten Back aus in Richtung Aufbauten fotografiert wurde.

Aha, werden die Kenner jetzt sagen, Typ IX, und dann werden ihnen Geschichten einfallen über die Macken und Vorzüge dieser Schiffe, Anekdoten von spektakulären Reisen und kauzigen Seeleuten. Aber da kann ich leider nicht mitreden. Und vom traurigen Ende der MANSFELD habe ich durch einen kurzen Bildbericht der "Aktuellen Kamera" am 17. Februar 1986 erfahren. Das ging mir durch Mark und Bein.

Keine inneren Bilder und kaum Fotos, aber immerhin Papier. Ein Prospekt zum Beispiel, “Information über Einstellungsmöglichkeiten bei der Handelsflotte der DDR”. Das war der Anfang und einige Monate später konnte ich den Lehrvertrag unterschreiben. Es war die Ferne die lockte, und sonst nichts, auch wenn es einiger sozialistischer Phrasen in der Bewerbung bedurft hatte, um zu den Glücklichen zu zählen, die dann ihre Kammer auf der BÜCHNER beziehen durften.

Es war schon höchst gewöhnungsbedürftig, plötzlich mit “Genosse” angeredet zu werden, um 23.00 Uhr in der Koje liegen zu müssen und in Uniform zum Unterricht zu erscheinen. Aber der Blick aus dem Bulleye ging zum Überseehafen, und da wollten wir schließlich hin!

Nach einem Jahr hatten wir es geschafft. Auch hier gab es ein Papier was daran erinnert, ein Telegramm: "anreise mit voller ausruestung am 02.07.0800 uhr einsatz ms mansfeld". Es blieb noch Zeit, sich von den Freunden zu verabschieden und die Schiffspositionen in den Zeitungen der letzten Wochen zu studieren. Es war zwar nicht gerade Fernost oder Südamerika, was mich als künftiges Fahrtgebiet erwartete, dennoch überwog eine unruhige Freude auf das Kommende. Endlich sollte es losgehen!

Monate voller neuer Eindrücke folgten. Unvergessen der Stolz, mit dem man beim ersten Auslaufen Kurs NOK, das Winken der Urlauber auf der Warnemünder Mole ignorierte. Dann, im Kanal, gelindes Erschrecken über das erste U-Boot, das man zu Gesicht bekam. Nicht zu vergessen die Tauschgeschäfte mit den Fischern vor Norwegens sagenhaft schöner Küste. Zwei Pützen Schnapsflaschen gegen zwei Pützen Dorsch, den der ansonsten belächelte Politoffizier in einem Fass zu räuchern wusste, mit ausgesprochen köstlichem Ergebnis. Die erste eigenhändig gesteuerte Hafeneinfahrt, schweißnass klebte mir das Hemd am Körper, während es draußen nur wenig über Null war. Ein heilloses Besäufnis mit M. im Murmansker Seemannsclub. Als wir an Bord kommen, wollten sie uns schon suchen lassen.

Das Fußballspiel gegen die Besatzung eines russischen Eisbrechers endete nach meiner Erinnerung 11:1, aber nicht für uns. Treff beim Bootsmann in der Kammer. Verzweifelt versuchte er uns Lehrlingen Knoten beizubringen und scheiterte immer wieder, nicht an uns, sondern am “Küstennebel”, den er wie Wasser trank. Hafentage in Danzig, Blumen und Kerzen vor der Lenin-Werft. Wenig später herrschte Kriegsrecht in der Stadt und im Land. Dankbar schlangen die Hafenarbeiter an Deck, das vom Koch spendierte Mittagessen herunter.

Die lieben Kollegen, mit denen wir Tagestörn gingen, duschten vor uns extra ausgiebig, bis für uns Stifte nur noch kaltes Wasser übrig war. Bei meiner hoch wichtigen Tätigkeit als Filmvorführer in der Mannschaftsmesse kamen die Rufe: “Anhalten – zurück”, wann immer eine DEFA-Nackte zu besichtigen war. Eine halbe Nacht waren wir in Casablanca unterwegs, natürlich als Gruppe und mit den noch an Bord erworbenen Dirham von den Händlern für verkaufte Arbeitshemden und Uniformhosen. Ein Schock bei der Rückkehr, ich hatte vergessen das Bulleye zu schließen. Buchstäblich alles war von feinem Staub bedeckt, schließlich luden wir Apatit. Für die nächsten Stunden hatte ich unter M.`s grimmigen Kommentaren schwer zu tun. Auch der Landgangsausweis fand sich bei den erhaltenen Papieren. POLICE DU PORT, auf der Rückseite arabisches Stempelgeschnörkel. Kein Gedanke damals, dass dies die letzte Reise gewesen sein könnte.

Dafür aber ein paar Tage Urlaub, bis wieder ein Telegramm kam. Wie immer keine Ahnung, wohin die Reise geht. Hoffentlich nicht wieder “Kleinpeter”, wie Klaipeda genannt wurde. Man hoffte auf Nordafrika.

Aber es kam anders. Unser Ausbildungsoffizier, Herr B., erwartete mich an der Gangway mit der Mitteilung, ich solle mich in der Berufsschule melden, mehr wisse er nicht. Dass nichts Gutes meiner harrte, lag in der Luft. Einmal noch ging ich in die Kammer und verabschiedete mich von meinem Mitlehrling M. Wenn ich ehrlich bin, dann wußte ich genau, dass ich weder ihn noch die MANSFELD je wieder treffen würde. Wenigstens nicht bis zu jenem Fernsehbericht, wo man sehen konnte, wie der begnadete Fischräucherer und belächelte Politoffizier mit einem Hubschrauber abgeborgen wurde, ehe die arme alte und nun führerlose MANSFELD nahe Leirosa/Portugal strandete.

Auf der Fahrt zum Krischanweg, versuchte ich mich in Mutmaßungen über den Grund der Vorladung, freilich ohne Ergebnis. Dort angekommen, eröffneten sie mir in frostiger Atmosphäre, dass ich mein Seefahrtsbuch abzugeben hätte, "aus kaderpolitischen Gründen" wie es hieß und das alles und nichts bedeutete. Ich sei schon der achte in diesem Lehrjahr. Ich dachte erst, dies sollte ein Trost sein, aber es war blanker Hohn. Zu Hause las ich in meinem Arbeitsvertrag den Satz (und ich lese ihn jetzt wieder): "Der Betrieb verpflichtet sich... nach Vorlage eines gültigen Seefahrtsbuches ...". Aber das konnte ich niemanden mehr vorlegen, das hatten sie mir abgenommen, aus diesen ominösen "kaderpolitischen Gründen". Erst vierzehn Jahre später fand ich in meiner Stasiakte einen näheren Hinweis - aber noch lange keine Erklärung.

Über ein Papier wäre noch zu berichten. Ein maschinenbeschriebenes Blatt im Format DIN A5, ich muß es eingesteckt haben, als ich mich von M. verabschiedete. Darauf steht:"“Berichtsthema Monat Dezember". Genosse Oertel, erläutern Sie die Aufgaben und Pflichten eines Matrosen beim An- und Ablegen von Seeschiffen. Gehen Sie speziell auf folgende Punkte ein: Vorbereiten der Manöverstation, Arbeiten mit den Leinen, Bedienen der Verholeinrichtungen, Methoden des Festmachens und Arbeitsschutz.

Ich hätte diese Aufgabe gern erfüllt. Aber dazu durfte es nicht mehr kommen, leider!  


DSR-Seeleute,  Montag, 8. November 2004